Der russische Staat als Unternehmen

NZZ Online

Die Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft als Ausdruck einer feudalistischen Struktur in der russischen Elite

Russland ist geprägt durch eine hohe Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft. Die nächste Generation der Bürokraten und Geschäftsleute steht schon bereit.
Gerald Hosp, Moskau

Andrei Borodin, der in Ungnade gefallene ehemalige CEO der Bank Moskwy (Bank of Moscow, BoM), teilt bis ganz nach oben aus: Der russische Präsident Dmitri Medwedew soll beim erzwungenen Verkauf der Anteile Borodins an der BoM die Finger im Spiel gehabt haben. Borodin will über einen Mittelsmann von Medwedew die Zusicherung erhalten haben, nach der Veräusserung der Anteile nicht von den russischen Behörden verfolgt zu werden. Es kam jedoch anders. Trotz Verkauf liessen die Behörden nicht locker, Borodin hält sich nicht mehr in Russland auf.

«Putins Freunde»
Ob die Anschuldigungen gegen Medwedew aus taktischen Gründen aufgrund des Asylantrags Borodins in Grossbritannien getätigt wurden oder ob es einen tatsächlichen Hintergrund gibt, ist Gegenstand von Spekulationen. Für den Asylantrag wäre es dienlich darzulegen, dass Borodin aus politischen Gründen verfolgt wird. In Russland fallen Verschwörungstheorien in der Regel auf einen fruchtbaren Boden. Nur weil man paranoid sei, heisse das nicht, dass man nicht verfolgt werde, lautet ein in Russland oft zitierter Spruch. Warum jedoch Medwedew als Präsident solche Methoden nötig haben soll, bleibt unklar. Der Kreml bestreitet die Vorwürfe.

Dem obersten Mann im Staat geschäftliche Verbindungen nachzusagen, hat Tradition: Der Begriff «Putins Freunde» beispielsweise wurde zu einer festen Redewendung. Damit wird die Verbindung von Wladimir Putin, der im März seine dritte Amtszeit als russischer Präsident anstrebt, zu Geschäftsleuten beschrieben, die während der Regentschaft Putins zu Reichtum kamen. Vor allem die Namen von Gennadi Timtschenko, der am Rohstoffhändler Gunvor und an mehreren russischen Unternehmen im Energiekomplex Russlands beteiligt ist, und der Gebrüder Rotenberg, die im Pipeline- und Baugeschäft tätig sind, tauchen dabei auf. Die Bekanntschaft soll über die gemeinsame Leidenschaft zum Judosport erfolgt sein. An einem Treffen mit russischen Schriftstellern Ende September antwortete Putin auf eine entsprechende Frage, es gebe keine geschäftlichen Beziehungen zwischen ihm und Timtschenko. Auch Timtschenko und die Rotenbergs bestreiten eine Verbindung zwischen ihren Geschäften und Putin. Ein weiterer Geschäftsmann, der oft zu den «Freunden Putins» gezählt wird, ist der Bankier Juri Kowaltschuk, der an der Bank Rossija beteiligt ist und zusammen mit Putin einer der Mitgründer der Datscha-Kooperative «Osero» in den 1990er Jahren war. Weitere Nachbarn in der Feriensiedlung waren Bildungsminister Andrei Fursenko und Bahnchef Wladimir Jakunin.

Unter Putin war der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft wieder gewachsen, wichtige Stellen wurden mit Personen besetzt, die wie Putin aus den sogenannten Sicherheitsstrukturen kommen. Mächtige Magnaten unterwarfen sich dem Diktat des Kremls, nachdem mit der Inhaftierung des Erdöl-Tycoons Michail Chodorkowski ein Exempel statuiert worden war. Gemäss der kritischen russischen Wochenzeitung «The New Times» sollen die von Putin im weitesten Sinn kontrollierten Firmen zwischen 10% und 15% des russischen Bruttoinlandprodukts ausmachen.

Komplizierte Familienbande
Wie auch immer diese Zahlen zu beurteilen sind, der Befund einer Klientelwirtschaft ist weit verbreitet. Die italienische Bank Unicredit gab im März dieses Jahres eine Studie heraus, in der Aktien-Tipps für Investoren gegeben werden, die auf Personen mit starken Beziehungen zum «Zentrum» setzen möchten. Die Autoren schreiben, dass in den vergangenen Jahren mehrere Unternehmensgruppen aufgestiegen seien, die bewiesen hätten, Geschäfte ohne grosse regulatorische und gesetzliche Einmischungen aufbauen zu können. Dabei fällt auf dass bei vielen Transaktionen immer wieder dieselben Namen auftauchen.

Die politische Aktivistin Marina Litwinowitsch macht mit ihrem Projekt «Election2012.ru» darauf aufmerksam, dass rund 50 Familien die Kapitalströme kontrollierten. Diese besetzten die Kommandoposten in Politik und Wirtschaft. Dabei ist der Begriff Familie auch sehr eng zu verstehen: So ist der Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow der Schwiegersohn des stellvertretenden Ministerpräsidenten Wiktor Subkow, und der Industrieminister Wiktor Christenko ist mit der Gesundheits- und Sozialministerin Tatjana Golikowa verheiratet. Zudem ist der Trend zu beobachten, dass verstärkt die Töchter und Söhne der Bürokraten und Geschäftsmänner einflussreiche Posten übernehmen. In einer Gesellschaft mit einem geringen Ausmass an sozialem Vertrauen ist die Familie eine Möglichkeit zur Sicherstellung von Loyalität.

Vor allem im Finanzbereich haben es schon einige Nachkommen zu Karrieren geschafft. So leitet der Sohn des früheren Chefs des Inlandgeheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, das staatliche Institut Rosselkhozbank, Russlands viertgrösste Bank. Der Sohn von Alexander Bortnikow, dem derzeitigen Leiter des FSB, ist Topmanager bei der Staatsbank VTB. Ein spezieller Fall ist der Versicherungskonzern Sogaz, der mehrheitlich der Bank Rossija von Kowaltschuk gehört. CEO von Sogaz ist ein Sohn des Vizeministerpräsidenten Sergei Iwanow, ein stellvertretender Generaldirektor der Versicherungsgesellschaft ist der Sohn eines Cousins von Putin. Über Sogaz kontrolliert Rossija die Gazprombank und die Medien-Holding Gazprom Media. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew diagnostiziert, die russische Elite habe eines der reichsten Länder der Welt gekapert und privatisiert. Er bezeichnet die Mechanismen, mit denen Geld in Macht und umgekehrt umgewandelt werden kann, als ein neofeudalistisches System. Die unteren Ebenen zahlten mit Loyalität und erhielten Schutz und Pfründe. Das System basiert laut Inosemzew auf wirtschaftlichen Freiheiten für die Bürger, die Nutzniesser des Regimes generieren jedoch mithilfe der politischen Restriktionen ihren Wohlstand.

Wenn jemand aus irgendwelchen Gründen aus dem Gefüge fliegt, kommt es zu einer Umverteilung des «Lehens». Je nach Art des Loyalitätsbruchs gibt es dann die Varianten, dass ganz enteignet wird oder zumindest zu einem meist günstigen Preis die Aktiva gekauft werden. Üblicherweise werden Mittelsmänner eingeschaltet. Der Fall des ehemaligen Moskauer Bürgermeisters Luschkow, der 2010 von Präsident Medwedew zum Rücktritt gezwungen worden ist, zeigt dies auf. Gegen den Langzeit-Bürgermeister wurden über Staatsmedien lange bekannte Korruptionsvorwürfe vorgebracht, Medwedew sagte, er habe das Vertrauen verloren. Gegen Luschkow und dessen Ehefrau, die ihr russisches Firmenkonglomerat in der Zwischenzeit verkauft hat, wurde noch kein Strafverfahren eingeleitet.

Der Umgang der Elite mit Luschkow nach dessen Rücktritt ist zudem bezeichnend: Während er früher einer der mächtigsten Männer des Landes war, wird er heute weitgehend gemieden. Borodin wird als Chef der BoM, an der die Stadtverwaltung Moskau beteiligt war, zum Umkreis von Luschkow gezählt, auch wenn der Banker einen engen Kontakt bestreitet. Mit dem Fall Luschkows ist auch der Stern Borodins gesunken. Das Beispiel zeigt, dass Machtwechsel in Russland meist mit einer Umverteilung von Vermögenswerten und Zahlungsströmen verbunden sind. Eine Veränderung der politischen Akteure oder gar des politischen Systems birgt deshalb immer die Gefahr eines Kampfs ums Kapital. In diesem Sinne kann auch die Rückkehr Putins in den Kreml als Sicherheit für die unteren Chargen verstanden werden, dass sich wenig ändern wird, und falls sich etwas ändern sollte, wird dies nicht auf Kosten loyaler Lehensträger gehen. Medwedew hatte, trotz der geringen Durchschlagskraft, mit seiner Rhetorik der Modernisierung und mit manchen Initiativen, die den Einfluss der Politik auf die Wirtschaft beschneiden sollten, doch Staub aufgewirbelt. Mit dem Verzicht auf die Präsidentschaft erwies sich Medwedew jedoch als loyal Putin und dem feudalistischen System gegenüber.

Negative Selektion
Die Analyse des russischen Staates als Unternehmen mit feudalistischen Strukturen lässt auch Folgerungen zur wirtschaftlichen Dynamik Russlands zu. Inosemzew betont die «negative Selektion» innerhalb der Elite, in der Loyalität schwerer wiege als Leistung. Ähnliche Bedenken hat ein russischer Milliardär, der nicht genannt werden will, wenn er meint, dass neben der allgemeinen wirtschaftlichen Lage die Kompetenz der Regierung das zweitgrösste Risiko für einen Wirtschaftsaufschwung in Russland sei.

Zudem werden durch solche Strukturen die Anreize für die Wahl der Karriere verzerrt. Die Kinder höherer Bürokraten gehören meist zu den Personen mit guter Ausbildung, viele haben ein Studium im Ausland vorzuweisen, sie kennen die Welt ausserhalb Russlands. Durch den privilegierten Zugang zu Geld und Einfluss ist es aber einfacher, in sogenanntes Rent-Seeking zu investieren, das Einkommen durch politische Bevorzugung verspricht. Besonders Länder mit grossen Rohstoffvorkommen sind in dieser Hinsicht gefährdet. Rent-Seeking bedeutet auch, dass mehr Energie in die Aufteilung als in die Vergrösserung des Kuchens gelegt wird. Dies zeigt sich auch in der Neigung vieler Hochschulabsolventen, im Staatsdienst oder in Staatsunternehmen anzuheuern. Die neue Elite könnte sich trotz ihrer Weltgewandtheit als strukturkonservativ erweisen.

Ein weiterer Effekt ist die Perspektivlosigkeit derjenigen, die nicht ins System passen. Russische Umfragen zeigen eine hohe Bereitschaft zur Auswanderung; vor allem jüngerer, urban ausgerichteter und gut ausgebildeter Personen. Wenn tatsächlich eine verstärkte Auswanderung der Leistungsbereiten stattfindet, reduziert sich auch der Wettbewerbsdruck auf die Elite.